Lingen / Landkreis Emsland / Deutschland: Das Kernkraftwerk Emsland bleibt bis zum 15. April 2023 am Netz. Mit dieser Entscheidung sorgte Bundeskanzler Olaf Scholz gestern für einen Aufschrei unter manchen Kolleginnen und Kollegen der anderen Parteien. Seitdem überschlagen sich die Diskussionen im Internet. Besonders aus den Reihen der Grünen-Partei ist Empörung zu vernehmen. Scholz habe seine Richtlinienkompetenz genutzt, um die Streitereien in der Ampel zu beenden. Die Grüne Jugend kritisiert diesen Schritt als Symbolpolitik. Scholz habe sich untergeordnet, um ein Machtwort zu sprechen. Einen wirklichen Beitrag zur Energiegewinnung könne das AKW in Lingen jedoch nicht mehr leisten.
Besonders verärgert sind die Grünen, da der Zeitpunkt dieser Entscheidung äußerst ungelegen kommt. Zum Einen sei er viel zu spät – das Atomausstiegsgesetz muss nämlich noch in diesem Monat geändert werden-, zum anderen hat der Abgeordnete Christian Meyer noch am Freitag vom Parteitag getwittert: „ByeByeAtomkraft. Jetzt ist #Atomkraft in Deutschland definitiv Geschichte. #Grüne beschließen keine neuen Brennelemente. #Emsland geht zum 31.12.2022 vom Netz.” Die Partei war offenbar überzeugt davon, dass das dritte Kernkraftwerk in Deutschland nicht weiterlaufen wird. Jürgen Trittin kündigte an, das letzte Wort sei noch nicht gesprochen und verwies auf das Grundgesetz.
Dort steht: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung.“
Zu Deutsch: Scholz kann zwar Basta sagen, aber die Ministerinnen und Minister in den entsprechenden Ressorts können sein Machtwort trotzdem anfechten.
Viele Argumente gegen die Verlängerung
Es sprechen aber noch weitere Argumente gegen die Verlängerung der Laufzeit: Der Beschluss des Kanzlers wurde getroffen, ohne eine erforderliche Sicherheitsprüfung durchzuführen. Auch seien andere Überprüfungen überfällig, bei denen offenbar auch nicht geplant sei, sie nachzuholen. Das jedenfalls bemängelte die Deutsche Umwelthilfe gegenüber dem NDR.
Weiter noch: Mit dem bisherigen Ausbau der Wind- und Solarenergie steht Niedersachsen weniger schlecht da als andere Bundesländer, wenn es um den Wechsel zu erneuerbaren Energien steht. Das AKW am Laufen zu halten würde also anderen Bundesländern, die ihre Hausaufgaben nicht so mehr oder weniger erfolgreich gemacht haben, mehr nutzen als Niedersachsen selbst.
Die RWE, die das Kernkraftwerk Emsland betreibt, äußerte sich heute in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber ems TV:
„Der Bundeskanzler hat entschieden, die Laufzeit aller drei noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke bis zum 15. April 2023 zu verlängern, darunter das KKW Emsland. Dies ist eine politische Entscheidung, die wir in der aktuellen Energiekrise nachvollziehen können.
Wir werden jetzt unverzüglich alle notwendigen Vorbereitungen treffen um den Leistungsbetrieb des Kraftwerks Emsland bis zum 15.4. zu ermöglichen.
Dazu bedarf es auch der Anpassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen und Vorschriften.
Die gestrige Entscheidung schafft Klarheit und Planungssicherheit“
Die Auswirkungen, die ein Weiterbetrieb des emsländischen Kraftwerks auf das Personal und die eingesetzte, teils stark beanspruchte Technik hat, sind bislang schwer einzuschätzen. Die RWE wollte sich dazu bislang nicht äußern.
Sicherheitsrisiko nicht überprüft
Da aber in den letzten Jahren mehrfach Risse unter anderem im hiesigen Kraftwerk gefunden wurden, stellt ein Weiterbetrieb in den Augen der Atomkraftgegnerinnen und -gegner ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar.“Der Kanzler trägt Verantwortung für die Menschen im Land. Aber die Sicherheit der Bevölkerung liegt ihm offenbar so wenig am Herzen, dass er den Alt-Reaktor in Lingen trotz Rissefunden und verschleppter Sicherheitsüberprüfungen weiterlaufen lassen will,“ Mit diesem Statement von Femke Gödeker vom Elternverein Restrisiko Emsland macht das Bündnis AgiEL ihrem Ärger Luft.
Wie die Parteispitze der Grünen am Dienstagnachmittag bekannt gab, habe man sich entschlossen, die Entscheidung des Bundeskanzlers mitzutragen.
„Der Kanzler hat sich entschieden, von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen. Wir werden diesen Weg als Partei mittragen. Damit herrscht jetzt aber auch Klarheit. Erstens: Die Ampel nimmt Verantwortung für die Energiesicherheit und die Netzstabilität in diesem Winter. Und zweitens: Der Atomausstieg kommt. Es werden keine neuen Brennstäbe besorgt. Alle verbleibenden drei deutschen AKW werden zum spätestens 15. April 2023 vom Netz gehen und die Zukunft, die gehört ganz klar den erneuerbaren Energien. Daran wird jetzt auch nicht mehr gerüttelt.“
Ricarda Lang, MdB Bündnis 90/Die Grünen
Wie das Ganze jetzt weitergeht, ob die Ministerien das Machtwort wieder rückgängig machen können und – sollte das nicht passieren – was das für die Menschen im Emsland bedeutet, ist nicht klar. Das dürfte in den nächsten Tagen und Wochen für einigen Gesprächsstoff in der Ampel sorgen.
(18.10.22)